Selbstredent (VÖ: 1985)
Interview-Porträts, Kathrin Brigl, Siegfried Schmidt-Joos (Hrsg.)
Noch hab’ ich mich an nichts gewöhnt
Heinz Rudolf Kunze wurde am 30. November 1956 im Flüchtlingslager Espelkamp geboren. Seine Eltern, beide Lehrer, stammten aus Frankfurt/Oder; Osnabrück wurde ihre neue, bundesdeutsche Heimatstadt. Als Kunze 1980 die Musikszene betrat, indem er beim Nachwuchsfestival der Deutschen Phono-Akademie in Würzburg den ersten Preis in der Sparte Liedermacher gewann, empfanden Journalisten seine Erscheinung mit Brille, kurzgeschnittenem Haar, Anzug mit Krawatte und Oberhemd als ebenso aus dem Rockrahmen fallend wie seine Darbietung. Er wirke, so die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», «wie eine Inkarnation jener Normalität, auf die er in Liedern Anschläge verübt». Er sehe aus, so die «Frankfurter Rundschau», «wie ein Bankier aus dem mittleren Management, der nach einer durchsoffenen Nacht morgens in die falschen Schuhe gesprungen ist». Tatsächlich waren bis dahin alle Weichen in der Biographie dieses Künstlers auf eine kleinbürgerliche Existenz als Gymnasiallehrer gestellt. Er war immer Primus gewesen, studierte in Münster und Osnabrück Germanistik und Philosophie, erwarb die Befähigung für das höhere Lehramt und strich für seine frühen literarischen Arbeiten 1978 sogar einen von seiner Heimatstadt Osnabrück gestifteten Förderpreis ein. Weitere Auszeichnungen folgten: 1981 der von Konstantin Wecker initiierte Kleinkunstpreis «Berliner Wecker» sowie der «Willy-Dehmel-Preis» im Rahmen des SWF-Liederfestivals; 1983 der Deutsche Schallplattenpreis für das Album Eine Form von Gewalt; 1984 das Niedersächsische Künstlerstipendium des Ministers für Wissenschaft und Kunst. Die Tageszeitung «Die Welt» urteilte daraufhin, er sei «ein Senkrechtstarter der an Talenten nicht eben übersatten deutschen Liedermacher- und Chansonnier-Szene, ein Preiseschießer ohnegleichen». Bei seinem ersten wesentlichen Fernsehauftritt 1981, bezeichnenderweise in der Sendung «Litera-Tour», debütierte er mit dem Song Noch hab’ ich mich an nichts gewöhnt. Dieser Slogan ist auch nach fünf Langspielplatten, darunter ein Live-Doppelalbum, noch zutreffend. Der «Niedermacher», wie er anläßlich seiner ersten LP Reine Nervensache von seiner Plattenfirma genannt wurde, hat sich (um mit seinen LP-Titeln zu reden) mit «schwerem Mut» jeder «Form von Gewalt» widersetzt und sich seinen eigenen «Ausnahmezustand» auf der deutschsprachigen Songszene erhalten. Seine Texte, die in der sorgfältigen Edition Deutsche Wertarbeit auch im Verlag Zweitausendeins vorgelegt worden sind, beruhen oft auf Alltagsbeobachtungen, die er scharfzüngig und sarkastisch überpointiert. Er liebt Rollensongs, schlüpft in die Haut anderer Figuren, entlarvt beispielhaft Denk- und Verhaltensweisen, neigt aber auch dazu, seine Songs mit Bildern und Metaphern zu überfrachten. In seiner Entwicklung ist die Tendenz zu einfacheren, liedhafteren Formen spürbar. Kunze überwindet zunehmend seinen anfänglichen Hang zum gesungenen Prosatext. Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Wahl des einstigen «Kinks»-Hits Lola für die treffsichere Schilderung einer abstrus zweideutigen Sexbegegnung in Dortmund-Nord. Kritiker Peter Kleiss: «Meist rutschen solche Adaptionen ins Klischee-Schlagerhafte ab. Nicht so bei Kunze. Seine Lola hat wesentlich mehr Witz als das Original.» Kritiker Hans-Hugo Schildberg: «Kunze verbreitet keine Weisheiten, keine oberlehrerhaften Warnungen; er beschreibt in trockenem, kaum betontem Sprechgesang Bilder dieser Welt.»
Erstes Gespräch: November 1981, nachmittags
Da sitzt mir in Berlin einer gegenüber, noch nicht ganz 25 Jahre alt, ein Mann – und das genieße ich im Moment –, der in den Startlöchern steht. Die Branche hat ihn sich auf dem Pop-Nachwuchsfestival 1980 der Phono-Akademie als Gewinner erkoren. Die Leute – sprich: das Publikum – wissen noch nicht so ganz, wer das ist, Heinz Rudolf Kunze. In einem Lied begegnen Sie sich selbst. Wissen Sie ganz genau, wer Sie sind?
Ich versuche, mich und mein Privatleben nach Kräften herauszuhalten aus Stücken, weil ich nicht in einem ersten Anlauf privat sein will, sondern nur in einem zweiten. Ich möchte das, was ich an Privatem durchkommen zu lassen gedenke in Liedern, erst mal daraufhin filtern, ob es eine Erfahrung ausdrückt und transportiert, die als Subjektivität allgemein verbindlich sein kann. Meine Schwierigkeiten mit mir selbst, wer ich denn sein mag, sollen sich nicht unmittelbar niederschlagen in Musik und Text, sondern nur vermittelt durch Form. Aber freilich weiß ich nicht, wer ich bin, sonst wäre ich wahrscheinlich in meiner einmal angesteuerten Laufbahn, in meiner bürgerlichen Laufbahn geblieben.
Das Stichwort bürgerlich nehme ich sehr gern auf. Die Leute, die Kritiker, die Journalisten, die Sie bereits wahrgenommen haben, beschreiben Sie als jemand, der von der Optik her den Eindruck eines preußisch-bürgerlichen Menschen macht, eines Mannes, den man, wenn man ihn zum erstenmal sieht, als Klassenprimus bezeichnen könnte, als einen Streber mit der korrekten Brille und dem korrekten Haarschnitt. Dahinter, und das scheint der Reiz zu sein, verbirgt sich doch wohl ganz jemand anderes.
Über diese optischen Einordnungen war ich eigentlich immer sehr erstaunt, weil es doch seit drei, vier Jahren im Erscheinungsbild von Musikern aus dem Pop-Rock-Bereich viele gibt, die sehr gut getarnt wirken. Es gibt doch eine ganze Menge New-Wave-Leute, die eigentlich sehr brav aussehen. Es stimmt, daß ich einen sehr biederen Lebensgang hinter mir hatte, und daß ich mich erst vor relativ kurzer Zeit entschlossen habe, das, was ich jetzt mache, konsequent und auch berufsmäßig zu tun. Es kommt allerdings sehr schnell der Punkt, wo man ein bißchen verstört und verärgert drüber wird, daß Leute sich immer wieder festkrallen an diesen äußerlichen Dingen, die oft das Gespräch über die Inhalte regelrecht blockieren.
ISBN: 3-499-15602-4